Überhorizont-Radarstation “Tschernobyl-2”
Wladimir Musiez, der letzte Kommandeur der Radarstation erinnert sich: “ Im Jahre 1969 wurde der Bau des Objektes beschlossen. Ich kam ein paar Monate vor der Inbetriebnahme
im Jahre 1976 als Stabsoffizier hierher und wurde acht Jahre später zum Kommandeur ernannt. Diesen Posten behielt ich bis zur Schliessung der Anlage im August 1988. Von der
Katastrophe am Kernkraftwerk hörte ich 2 Stunden nach der Explosion. Zusammen mit dem Kommandeur des ABC-Trupps Schewtschenko nahmen wir Messungen auf dem Weg nach
Pripjat und später auch in Pripjat vor. Um 11 Uhr morgens beschloß ich, die Radaranlage abzuschalten. Die Ventilation saugte kontaminierte Luft aus der Umgebung in die Räume hinein,
was die sensible Elektronik beschädigen würde. Seit dem war die Radaranlage nie wieder im Betrieb. Eineinhalb Jahre später wurde beschlossen, das Objekt aufzugeben. Zu diesem
Zeitpunkt war klar, dass die hohe Radioaktivität die Arbeit hier unmöglich machte. Den ersten vergeblichen Versuch der Dekontaminierung unternahmen wir bereits im Juni 1986.
Damals hatte ein ABC-Schutztrupp 3 Tage lang versucht das Gelände zu säubern - vergebens. Wenige Tage später zeigten die Messungen die absolute Sinnlosigkeit dieses Unterfangens.”
Zum heutigen Tage hat sich die Strahlenbelastung rund um das Objekt im Übrigen normalisiert und liegt an der Erdoberfläche und den Antennen etwas höher als die natürliche
Hintergrundstrahlung. Doch das Objekt erweckt leider nicht nur das Interesse der neugierigen Besucher und Verschwörungstheoretikern aus aller Welt. Die Gesamkosten der Radaranlage
waren doppelt so hoch wie die des in neun Kilometern gelegenen AKWs. Außer der für damalige Verhätnisse unbezahlbaren High-End-Elektronik und andere Technik wurden hier tausende
Tonnen hochlegierten Metalls verarbeitet, die vor allem heute en großes wirtschaftliches Interesse wecken. Nach dem die Anlage ihre militärische Funktion verloren hatte, wurden die
Zuständigkeiten an den staatlichen Betrieb “Komplex” übergeben. In erster Linie bestand die Aufgabe darin, die Anlage zu überwachen - zum Schutz vor Metalldieben und Plünderern.
Im Jahre 2007 wurden ca. 2/3 der Vibratoren des kleineren Antennenfeldes demontiert. Ein Teil der Beute liegt immer noch auf dem Gelände herum und stellt somit die
Legalität dieser Arbeiten in Frage. Nach langem Überlegen der Behörden wurde die Anlage für den “Zonentourismus” freigegeben um das Potenzial irgendwie sinnvoll nutzen zu können.
Der komplette Aufstieg auf die grosse Antenne in 150 m Höhe
Der Abstieg
Trotz des recht ungepflegten Äußeren der Radar-Antennen ist der tatsächliche Zustand als erstaunlich stabil zu bezeichnen. Die weißen Vibratoren sehen nach über 30 Jahren wie frisch
lackiert aus, auch die Leitern bis zur obersten Plattform erweisen sich als fest und zuverlässig. Die Bodenplatten sind trotz Rostschicht intakt und gut begehbar. Die Rohre des
Hauptgerüstes haben einige Korrosionsstellen, die sich aber nicht unbedingt auf die Stabilität der gesamten Konstruktion auswirken müssen. Anders sieht es am Fuß der
Antennen aus: die Betoneinfassungen zeigen Risse und Brüche. Ähnliche Radaranlagen wurden bereits in zwei Etappen gesprengt. Da die Stahlenschutzverordnung in der Sperrzone
aber Sprengungen aller Art untersagt und eine Demontage mit professionellen Kletterern zu teuer wäre, wird sich in nächster Zeit nicht viel an der Situation dieses Objektes ändern.
Nicht weniger beindruckend und mindestens genauso wichtig für den Betrieb der Radaranlage war das Rechenzentrum, das in einem zweistöckigen Gebäude einige hundert Meter neben
den eigentlichen Antennen untergebracht war. Die von den beiden Antennenfeldern empfangenen Signale wurden hier zusammengefasst, analysiert und gespeichert. Das Rechenzentrum
wurde für die damaligen Verhältnnisse mit der neusten und zuverlässigsten Elektronik ausgestattet. Um die Anlage mit Strom zu versorgen wurde eine eigene Hochspannungsleitung vom
AKW aufs Gelände gelegt. Die endlosen Regale in den Räumlichkeiten und ausgeschlachteten Elekronikmodule vor dem Gebäude zeugen vom einst enormen Ausmaß der Kapazitäten.
Die empfangenen Signale wurden mit HIlfe von mehreren Rechenmaschinen (1 MFLOPS) digital bearbeitet - für die damaligen Verhältmisse einer der leistungsstärksten Computer
überhaupt. Die Programme der Rechenmaschinen wurden auf nicht löschbaren Medien gespeichert, die nur mechanisch zesrtört werden konnten. Alle Rechenmaschinen und
Spezialcomputer waren redundant vorhanden. Bei Ausfall eines der Speichersysteme wurde es automatisch durch ein anderes, in Reserve gehaltenes ersetzt. Nach der Katastrophe
wurden die wichtigsten elektronischen Systeme demontiert und zur weiteren Nutzung an der ähnlichen Radaranlage nach Komsomolsk am Amur gebracht. Die restlichen verbliebenen
Gerätschaften enthielten in ihren Bausteinen oft reines Gold. Mit der Übergabe der Anlage an “Komplex” begann hier das grosse Ausschlachten auf legale und illegale Weise.
Ein Vorfall, der sich hier am 26.September 1983 ereignet hat, sollte in der Geschichte von Tschernobyl-2 nicht unerwähnt bleiben: In der 100 km von Moskau entfernten Kommandozentrale
der sowjetischen Weltraumstreitkräfte “Serpuhow -15” ging ein Sattelitensignal über den Start von ballistischen Raketen auf einem Militärstützpunkt in den USA ein. Der Offizier Stanislaw
Petrow leitete die Meldung aufgrund seiner Vermutung, dass es sich womöglich um einen Fehlalarm handeln könnte, nicht an das Verteidigungsministärium weiter. Es blieben zwei
Möglichkeiten seinen Verdacht zu überprüfen: die Erste war abzuwarten, bis die Flugkörper in Reichweite der konventionellen Radar-Systeme gekommen waren. Die andere - den
Start der Raketen mit Hilfe einer Überhorizont-Radarstation zu lokalisieren. Die Informationen über die Raketen im Anflug konnten vom Personal in Tschernobyl - 2 nicht bestättigt werden.
Später entpuppte sich der Vorfall als eine Störung des Satteliten-Warnsystems, die durch eine Reflektion des Sonnenlichts in den hohen Wolken verursacht wurde. Die Informationen über
diesen Vorfall gelangten erst nach der Aufhebung der Geheimhaltungsstufe im Jahre 1993 an die Öffentlichkeit. Der frühere Offizier der Kommandozentrale Petrow erhielt 2006
im Stabsquartier der UNO eine Miniaturstatue in Form einer von einer Hand gehaltenen Weltkugel mit der Gravur “der Mensch der einen Atomkrieg verhindert hat”.
Nach Jahren erfolgloser Versuche, auf das Gelände eines der wohl interessantesten Objekte in der Sperrzone von Tschernobyl zu kommen, gelingt es endlich eine Genehmigung
zu bekommen. Die einzige Zufahrt zum Gelände der Radaranlage - eine schmale Betonplattenstraße, typisch für viele militärische Objekte der ehemaligen Sowjetunion - führt
kilometerweit durch einen dichten Nadelwald. Sie endet an einem geheimnisvollen, geradezu von Mythen umgebenen Ort, der viele Namen trägt: “Russian Woodpecker”- für das
typische Specht-ähnliche Klopfgeräusch im Radioempfang, “Steel Yard” - als NATO-Codename oder “DUGA-3“ - als Bauartbezeichnung. Um für Verwirrung beim potentiellen Feind
zu sorgen, wurde tatsächlich der bescheidene Name “Tschernobyl-2” genutzt... Langsam werden die Umrisse der gewaltigen Antennenfelder am Ende der Strasse sichtbar.
Von der Bauphase des Komplexes Anfang der 70er Jahre bis zur Katastrophe 1986 und einige Jahre danach unterlag die Radaranlage der strengsten militärischen Geheimhaltung.
Selbst die Bewohner der 12 Kilometer entfernten Stadt Pripjat wussten nicht genau, worum es sich bei dem Ungetüm, das über den Wald herausragte, tatsächlich handelte.
Sie wunderten sich über die riesiegen Kräne, mit Hilfe deren man die stählerne Konstruktion montiert hatte. Parallel entstand eine kompakte Militärsiedlung aus 5-stöckigen
Wohnblocks für die Familien der bediensteten Spezialisten und Offiziere... Auch die Jahre nach der Katastrophe wurde die Anlage streng bewacht. Erst wenige Tage vor der Reise
war der Zutritt für Besucher durch die zuständige Behörde offiziell freigegeben worden... Ein verschlafener Wachmann macht nach einem kurzen Dokumentencheck das Tor auf.
Es gibt dutzende Verschwörungstheorien über den Einsatz von DUGA-3. Die Spanne reicht vom Auslöser der Reaktorkatastrophe, über die Beeinflussung des menschlichen
Bewusstseins bis hin zur Verwendung als Geo-Waffe um das Wetter zu beienflussen und sogar Erdbeben zu verursachen. Tatsächlich handelt es sich um ein Teil eines Frühwarnsystems
für den Fall eines nuklearen Angriffs aus dem Westen. Genau genommen um einen Empfänger, dessen Sender 60 km entfernt nahe eines Ortes namens Ljubetsch in der Tschernigow
Region errichtet war. Die riesiege,150 m hohe und 750 m lange Konstruktion war im Stande, die von der Ionosphäre reflektierten Kurzwellen des Senders zu empfangen und somit das
gesamte Territorium der westlichen Hemisphäre zu überwachen. Zusammen mit der Anlage in Tschernobyl-2 waren zwei weitere ähnliche Radaranlagen in Nikolajew und Komsomolsk am
Amur in das ABM (anti ballistic missile) - System der ehemaligen UdSSR eingebunden. Die Reichweite der Anlage betrug mit einer Sendeleistung von 10MW und einer Pulsrate von 10 Hz
bis zu 15.000 km... Der große Platz hinter dem mit zwei Sternen geschmückten Tor ist nahezu übersät mit Agitationsmalereien und Parolen der sowjetischen Armee, die den Besucher in
die Atmösphäre des Kalten Krieges versetzen. Entlang einer Kaserne und einer Kantine auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes geht es in Richtung Antennenfelder.
Die Radarstation diente zum frühzeitigen Aufspüren des Einsatzes von strategischen Waffen des potentiellen Gegners. Während der Testphase kamen einige Nachteile des Systems
ans Licht. Die technischen Besonderheiten erlaubten es nicht, einzelne Ziele oder kleine Gruppen von Zielen zu orten. Somit war nur das Lokalisieren von einem Massenstart der
gegnerischen Langstreckenraketen möglich. Trotz dieser funktionellen Einschränkungen wurde am 31.Mai 1982 beschlossen, die Anlage in einen experimentellen Betrieb zu nehmen.
Mit dem Beginn des Betriebes der Radare stellte sich ein weiteres Problem heraus: ein Bereich der Arbeitsfrequenz stimmte mit dem Frequenzbereich der zivilen Luftfahrt und der
Meeresflotten europäischer Länder überein und beeinträchtigte somit dessen Sicherheit. Wegen der zahlreichen internationalen Beschwerden wurde das Signal, das sich im
Kurzwellenradioempfang wie das scharfe Klopfen eines Spechtes anhörte, abgeändert. Dadurch bekam die Anlage eins ihrer berühmten Spitznamen -“russian woodpecker”.
Im Obergeschoß des Rechenzentrums befindet sich ein Trainingsraum in dem das angehende Personal ausgebildet wurde. Um den Kampfgeist und das Gefühl der enormen Verantwortung
der zukünftigen Spezialisten zu fördern, sind beinahe in jedem Raum üppige Tafeln mit Propagandasprüchen und Bildern angebracht. In einem anderen Raum, der fast einem Museum
ähnelt, findet man Informatonstafeln über jeden zu der Zeit bekannten Raketentyp der NATO und über die strukturelle Organisation des SAC (Strategic Air Command) der USA. Eine
weitere Tafel warnt vor den Plänen des nordatlantischen Bündnisses über die Aufstellung der Mittelstreckenraketen in Westeuropa. Auch der kommunistische Anführer W.I. Lenin
wird hier zittiert: “Die militärische Aufrüstung der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat gilt als einer der wichtigsten Hauptfaktoren der heutigen kapitalistischen Gesellschaft.”
Im zweiten Teil des Berichtes geht es um die Militärsiedlung von Tschernobyl - 2 und das Hilfssystem der Überhorizont - Radarstation, das unter Kennern als “der Kreis” genannt wird.
TEIL II
TEIL I