Sperrzone von Tschernobyl März 2009
Teil II
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Anhand dieser Fotos kann man davon ausgehen, dass die meisten Plünderungen in Pripjat ab 1998 stattgefunden haben. Erst dann, als die letzten noch halbwegs am Leben erhaltenen
und bewachten Objekte der Stadt aufgegeben wurden, begann der Anfang vom Ende. Die Ukraine durchlebte seit der Katastrophe mehrere politische und gesellschaftliche Umbrüche,
das alles wirkte sich auf den Zustand der Stadt und der Sperrzone insgesamt aus. Auch Zeiten der Gesetzlosigkeit in den früheren 90ern haben in der Stadt eine deutliche Spur
hinterlassen. Die hohen Schrottpreise sorgen nach wie vor für das Verschwinden der Heizkörper und
Treppengeländer in den meisten Wohnhäusern von Pripjat und Umgebung. Wer hinter diesen
Machenschaften steckt ist schwer zu sagen. Einerseits können Arbeiten dieser Art nur unter dem
Schutz des Staates durchgeführt werden, andererseits werden hin und wieder Fälle wie dieser und
noch grösseren Ausmasses aufgedeckt. Mal sind es einfache Kriminelle, ein anderes Mal - korrupte
Polizisten, die mit den Schrottjägern oder “Metallisten” wie man die hier nennt, zusammen unter einer
Decke stecken... Die einzige Ampel in Pripjat hat es zum Glück, bis in die heutigen Zeiten geschafft.
Nein, sie diente nicht ihrem eigentlichen Zweck - den Verkehr zu steuern, denn er war trotz der relativ
hohen Anzahl der Privatfahrzeuge in Pripjat eher mäßig. Sie funktionierte rein symbolisch, um den
Kindern und Grundschülern die elementarsten Verkehrsregeln nahe zu bringen...
Vom Kontrollpunkt führt uns die einst Pripjats Hauptstraße zum zentralen Platz. Entlang der Strasse kommen fünf- und neunstöckige Wohnblocks mit ihren leeren Fensteröffnungen
zum Vorschein. Langsam zeichnen sich die bekannten Umrisse des Kulturpalastes "Energetik" ab, links das Restaurant, rechts das Hotel "Polessje" mit dem Rathaus dahinter. Wir
scheinen endlich angekommen zu sein. Als erstes begehen wir das Hotel. Auf der Fassade fällt sofort eines der umstrittenen Graffitis auf. Ich frage mich, ob es wirklich sein
musste... Die Zeit wird eines Tages auch dieses menschliche "Schaffen" verblassen lassen...
Der Zustand der Räumlichkeiten des Hotels ist aufgrund der zentralen Lage katastrophal. Der gleiche Grund erklärt auch die unberührten Heizkörper, die in anderen weitentfernten
Wohnblocks bis in die obersten Etagen demontiert wurden. Feuchtigkeitsflecken, abgeplatzte Wandfarbe, zerbrochenes Glass bestimmen hier die Kulisse. Auf dem Tisch der Rezeption
liegt eine Broschüre über Organisation der Betriebssicherheit... Das sonstige Zimmerinventar ist größtenteils nicht mehr vorhanden. Die meisten Räume sind wie leergefegt. Wenige
Tage nach der Katastrophe richteten sich hier die Mitglieder der außerordentlichen staatlichen Kommission zur Bekämpfung von Folgen der Katastrophe ein. Vom Aussichtsbalkon
aus wurden die ersten Hubschrauberflüge zum noch brennenden Reaktor geleitet. Vom gleichen Balkon haben Tage zuvor nichtsahnende Bewohner den Nuklearbrand beobachtet...
Danach geht es in Richtung Rummelplatz - Pripjats Markenzeichen. Das Riesendrad, ein Autoscooter, zwei verrostete Karussells, ein Schießstand und eine kaputte Sitzbank ist alles
was der Vergnügungspark seinen Besuchern zu bieten hat. Das Riesenrad wirkt mit seinen stechend - quietsch gelben Gondeln wie ein Magnet, ein Blickfänger, der den Kontrast
zwischen dem grauen Leblosen und dem sonnigen Lebendigen besonders in dieser Jahreszeit zur Geltung bringt. Ein Widerspruch, da all die natürlichen Dinger wie Stein und Holz
hier vergänglich wirken, aber das durch die Menschenhand erschaffene Plastik ewig sein strahlenden Glanz zu erhalten scheint...
Es fängt an zu nieseln. In der Stille meint man, die einzelnen Tropfen aufprallen zu hören. Wir beschließen irgendein Gebäude zu betreten. Die Wahl fällt auf den Kulturpalast "Energetik".
Einst von der Bauweise und Ausstattung das aufwendigste Gebäude in Pripjat. Hier fanden alle wichtigen kulturellen Ereignisse statt: Theateraufführungen, Diskotheken, Vorlesungen.
Bis Ende der 90er hat man versucht die Stadt einigermaßen in Ordnung zu halten. Mit der Schließung der letzten Betriebe wie "Komplex" und des bis 1998 funktionierenden
Schwimmbades wurde Pripjats Schicksal endgültig besiegelt. Kurz darauf wurden alle in Aluminium gefassten Glassfassaden des Kulturpalastes zerstört und entwendet.
"Das Utilisieren", wie man es hier nennt, hält noch bis heute an, größtenteils durch staatlich geförderte Unternehmen, Plünderungen und Diebstahl von Schrott waren in Pripjat aber
auch keine Seltenheit.
Ein paar Gegenstände aus dem Kulturpalast "Energetik". Viele sehen sie bloß als Müll an. Für andere ist es wie ein Blick in die Vergangenheit...Manche Räume sind überfüllt mit den
Relikten der sowjetischen Epoche: Plakate mit Parolen und Devisen, Bilder der hohen Parteigenossen, propagandistische Literatur, aber auch einfache Lesebücher oder Zeitungen.
Vieles, ja eigentlich fast alles, ist jedoch von Plünderern und Vandalen unwiderruflich zerstört oder unmittelbar nach der Katastrophe als radioaktiver Müll beseitigt worden. Etwa
20000 Einwohner durften zwei Jahre nach der Evakuierung ihr zurückgelassenes Eigentum unter dosimetrischer Aufsicht abholen. Laut Augenzeugen soll es dabei sehr bewegende
Momente gegeben haben...
Vom Hauptgebäude des Kulturpalastes führt ein
Flur zu einem Anbau, dessen runde Form und
die großen Fenster bei mir schon von außen
beim Vorbeigehen für Klärungsbedarf gesorgt
haben. Beim näheren Betrachten entpuppt sich
ein Haufen Bretter als ein Boxring, der ehemals
über einen Kinderplanschbecken oder eine Art
Fontaine errichtet wurde.
Unser nächstes Ziel in Pripjat ist das Schwimmbad "Lasurniy" ("Türkisblau"). Wenn man hört, dass das Schwimmbad bis 1998, also noch 12 Jahre nach dem Unfall weiterbetrieben
wurde, stellt sich unter Berücksichtigung der Evakuierung automatisch die Frage: "Für wen?". Die ersten Jahre nach dem Unfall funktionierten in Pripjat mehrere staatlichen Betriebe
und Organisationen, die mit der Beseitigung der Katastrophenfolgen beschäftigt waren. Die Zahl der so genannten "Liquidatoren" pendelt irgendwo zwischen 600000 und einer Million
Menschen. Das in 4 Km entfernte AKW wurde nach einer kurzen Instandsetzung in Betrieb genommen und produzierte mit seinen 3 weiteren Blöcken bis 2000 elektrischen Strom.
Das Kraftwerkspersonal, aber auch Spezialisten, Ärzte, Wissenschaftler die zeitweise in Pripjat untergebracht wurden, waren diejenigen die in "Lasurniy" ihre Bahnen gezogen haben.
Teil III