Pripyat.de Tour September 2012
Nach den 3 Tagen absolut unerträglicher Hitze beim letzten Trip in Mai/Juni 2011 fiel die Entscheidung für dieses Mal gezielt auf September. Die Tage sind noch lang genug um alles
im Tageslicht zu erblicken; es ist nicht mehr so warm und überhaupt ist der September einer der schönsten Monate wie ich finde... In der Hoffnung dass der EM Wahnsinn in Kiew
sich größtenteils gelegt hat, trifft nun jeder von uns die letzten Vorbereitungen - denn auch diesmal soll es eine bunte Mischung werden: Ein Fotograf, eine Wissenschaftlerin und
meine Wenigkeit, der sich immer noch keiner Richtung bewusst ist... Kiew empfängt uns optisch in einem neuen Glanz: Der alte Flughafen ist nicht mehr zu erkennen, hier und da
hängen auch drei Monate später noch die EM Plakate und Werbetafeln. Das Viertel Podol, wo sich unsere Schlafgelegenheit befindet, liegt in der Altstadt am linken Ufer. Hier bleibt
auch alles beim Alten - gemütliche Bars und Cafes in Untergeschossen, teilweise recht fortgeschritten verfallener Häuser mit düsteren Hinterhöfen. Kleiner Spaziergang durch
nächtliches Kiew, kurzer Schlaf und schon geht es 130 km in nordwestliche Richtung, entlang der ukrainischen Dörfer zur Pforte der Sperrzone - dem Kontrollpunkt “Dityatki”...
Was uns in Kiew veschont hatte, trifft mit voller Wucht direkt hier vor der Zone ein. In Dityatki sieht es wie am 27.April 1986 aus, nur mit einem kleinen Unterschied: Diesmal fahren
die Busse in umgekehrte Richtung... Nach einer Dreiviertelstunde Wartezeit geht es endlich hinein, und als eine Art Wiedergutmachung erwartet uns wenige Kilometer weiter eine
angenehme Überraschung... Die Przewalski Wildpferde bekommt man hier nicht oft zu sehen, im Sommer suchen sie in den Wäldern Schatten und kommen entweder früh morgens
oder spät abends auf die Felder heraus. Ein paar Kilometer weiter liegt das verlassene Dorf Salissja. Der Name lässt sich vom ukrainischen als “hinter dem Wald” deuten. Den
heutigen Zustand des Dorfes würde man eher als “mitten im Wald” beschreiben - im üppigen Grün ist kaum noch etwas durch Menschenhand erschaffenes zu erkennen...
Entlang der noch halbwegs begehbaren Zentralstraße stehen ein paar Hütten, die man sich nicht mehr ohne Weiteres zu begehen traut. Das nächste “Highlight” ist das Lebensmittel -
geschäft, dessen Existenz lediglich zwei übergebliebene Buchstaben am Aushang verraten. So ein Lebensmittelgeschäft im Dorf hatte seiner Zeit nicht viel zu bieten - die meisten
Dorfbewohner waren Selbstversorger; eingekauft hat man nur das - was man nicht selbst herstellen konnte: Salz, Zucker, eventuell Brot, wenn es keine Bäckerei im Dorf gab. Den
restlichen Einkauf erledigten die Dorfbewohner in Pripjat. Die Stadt wurde außerordentlich gut mit allen heissbegehrten Waren versorgt und war ein Lieblingseinkaufsort für viele
Menschen aus der gesamten Polessje Region. Ein paar Schritte weiter erkennt man die Umrisse des Kulturhauses von Salissja. Ein roter Aushang über der Bühne verkündet eine
Bootschaft aus der Sowjetepoche: “ Es lebe der Kommunismus - die helle Zukunft der gesamten Menschheit”... Hier muss man genau aufpassen wo man hintritt - der Holzboden ist
völlig marode. Eine weitere Sehenswürdigkeit in Salissja ist eine Gedenkstätte für die im Zweiten Weltrkrieg gefallenen Dorfbewohner. Hier wurden kürzlich frische Blumen niedergelegt.
Fast alle einigermaßen gut zugänglichen Denkmäler in der Sperrzone werden regelmäßig gepflegt.
Auf unserem weiteren Weg liegt die Stadt Tschernobyl. Nach dem Erledigen der üblichen Formalitäten geht es in das Museum neben dem im letzten Jahr neu angelegten Memorial.
Das Museum (ein ehemaliges Kino, danach ein Lebensmittelshop) ist auf dem ersten Blick sehr aufwendig dekoriert und wirkt ausgesprochen atmosphärisch. Leider konnte ich mich
nur für wenige Exponate begeistern, da das Ganze mehr künstlerisch als dokumentarisch gestaltet wurde. Die größte Räumlichkeit ähnelt einer Reaktorhalle; unter dem Glasboden
wurden quadratische Platten verlegt, die eine Nachbildung des Deckels eines RBMK Reaktors darstellen. Danach geht es zum Verwaltungsbüro von “Komplex” in dessen Vorhof sich
eine Ausstellung der eingesetzten Robotertechnik befindet. Die Technik wurde dekontaminiert, jedoch stehen die Roboter hinter einer Absperrung in sicherer Entfernung.
Nun geht es durch den Kontrollpunkt “Leliv” in die 10 km Sperrzone. Die Notwendigkeit einer zweiten Zone bestand, weil hier eine hohe Konzentration an Transuranelementen
vorhanden ist. Erster Halt ist traditionell am Kindergarten von Kopatschi - bis auf ein paar hässliche Schmierereien hat sich hier nichts verändert. Die Hotspots unter der Dachrinne am
Eingang des Kindergartens und neben dem Baum am Denkmal weisen die üblichen hohen Messwerte auf. Auf dem Weg zum Sarkophag halten wir am ehemaligen Betonwerk und
anschließend am Rande vom Roten Wald an. Einige hundert meter weiter steht “die Fakel” - das verblasste Symbol des AKW Tschernobyl. Sie markiert den Anfang der westlichen Spur
des Fallouts. An einer Stelle am Straßenrand ist die Strahlung besonders hoch - man hat hier etwa einen halben Quadratmeter Schotter entfernt, so dass der ursprünglich sehr hoch
kontaminierte Boden freigelegt wurde. Das Ergebnis der Messung lässt sich sehen - es sind fast 800 uSv/h. Tiefer in den Wald lassen sich noch höhere Messwerte finden.
Anschliessend geht es in Richtung AKW. An das Bild des alten Sarkophags mit dem zweiten Abluftkamin muss man sich erst wieder gewöhnen. Die Baustelle der neuen Schutzhülle
befindet sich direkt daneben. Das Fotografieren in diese Richtung ist streng untersagt. Wie lange wird dieser Anblick, der über Jahrzehnte zum Symbol der menschlichen Unvollkommen -
heit geworden ist, noch bestehen bleiben? Diese Frage kann hier wohl niemand genau beantworten. Viele sind skeptisch, was das planmässige Fertigsstellen im Jahr 2015 angeht - aber
solange das Geld dafür fließt sind wohl alle daran beteiligeten zufrieden. Man kann sehr lange über die Notwendigkeit dieser Maßnahme diskutieren; aufjedenfall ist es ein Schritt in die
richtige Richtung, auch wenn es das eigentliche Problem aus der heutigen Sicht der Dinge nur ansatzweise löst. Immerhin etwas. Bei solchen Wunden ist die Zeit wohl machtlos...
Einige Informationen zum “New Safe Confinement” Projekt: Das Abkommen über den Bau der neuen Schutzhülle wurde bereits in 2007 unterzeichnet. Die Finanzierungssume beläuft
sich der Zeit auf rund 935 Millionen Euro und wird von der europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zur Verfügung gestellt. Mit dem Bau wurde das französische
Konsortium “Novarka” beauftragt. Die 257 m lange, 168 m breite und 108 m hohe Stahlkonstruktion wiegt rund 25000 Tonnen. Für das Fundament wurden 81000 m3 Stahlbeton
benötigt. Die Konstruktion soll seismischen Aktivitäten bis zur Stärke 9 auf der Richterskala standhalten und dem havarierten Reaktor weitere 100 Jahre Schutz bieten. Momentan
arbeiten hier im Zweischichtbetrieb rund 600 Mitarbeiter täglich; die meisten Arbeiter auf dem Betriebsgelände sind Ukrainer.
Tag I / I
Bis zum nächsten Mal wird sich hier einiges verändert haben - anders als in der Stadt, die nur wenige Minuten Autofahrt von hier entfernt ist. Dort scheint die Zeit an Bedeutung verloren
zu haben. Viele in der Außenwelt unabdingbare Sachen stellen dort keinen Wert dar. Sie existieren nicht in dieser Stadt. Als damals die Menschen von hier fort gingen, nahmen sie die
Bedeutung der Dinge mit. Die Natur schloß diese Lücke auf ihre einfache Art und Weise. Die Geräuschkulisse der ehemals hektischen Stadt bestimmen heutzutage die neuen Bewohner:
auf den Balkonen nisten Vögel, in Hinterhöfen buddeln die Wildschweine. Auf dieses Fleckchen Erde hat der Mensch keinen Einfluß mehr. Selbts die jährlich wachsende Anzahl der
“Atomtouristen” kann gar nichts daran ändern. Die Natur hat gewonnen und damit uns wieder einmal die Grenzen gezeigt... Nicht zum ersten und ganz sicher auch nicht zum letzten Mal...
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Video: Die Fahrt entlang des Roten Waldes, Hotspot im Roten Wald
Der Anfang
Video: Welse im Kühlbecken des AKW Tschernobyl