Sperrzone von Tschernobyl März 2009
Teil I
Einige hundert Meter weiter bleibt man vor einer geschlossenen Schranke stehen: Hier kommt man ohne Besuchergenehmigung nicht weiter. Die Geisterstadt ist komplett eingezäunt,
alle Einfahrtstrassen - gesperrt. Ein Polizist checkt unsere Papiere und öffnet die Schranke. Ein ruhiger und sicherer Job, abgesehen von der Strahlung, die nach wenigen Meter
abseits des Kontrollpunktes steigt... An der Wand eines Wohnblocks direkt hinter dem Kontrollpunkt kann man beim genauen Hinsehen die Zitat aus der Hymne der
Sowjet Union erkennen: " Lenins Partei ist die Kraft des Volkes, Sie führt uns zum Triumph des Kommunismus!". Vom Dach des gegenüberliegenden
Wohnhauses verkündet der Schriftzug "Es lebe die Arbeit" über die Ideologie einer längst vergangenen Epoche. Alles, was hier jemals vom Menschen
geschaffen wurde, entstand infolge dieser Ideologie. Womöglich führte dieselbe auch zum Untergang... Doch heute lassen wir die Geschichte ruhen.
Alles was hier passiert ist, wird selbst, wenn man die Fehler einsieht und eingesteht, wohl kaum jemals wiedergutzumachen sein... Mit gemischten
Gefühlen tauchen wir unbewusst in die Atmosphäre dieser in der Ewigkeit lebenden Stadt hinein. Alles was mit uns Menschen alltäglich die Realität
teilt - scheint hier nicht zu existieren, nichts ist vom Empfinden so wie man es
kennt. Das Zeitgefühl kehrt erst später wieder zurück, wenn man das Gesehene
zu verarbeiten versucht, und löst sich auf, sobald man sich in den Gedanken auf
Pripjats Strassen wiederfindet...Uns steht ein langer Wandertag bevor, das Wetter
ist trüb, es ist windstill. Die Bäume sind noch kahl, das verbessert erheblich die Sicht.
Die Natur erholt sich langsam vom langen Winter, der hierzulande oftmals hart ausfällt.
In der Stadt herrscht Totenstille. Die Vögel sind wohl noch nicht zurückgekehrt.
Vielleicht ist es für sie Ende März einfach zu früh. Ich will es hoffen...
Eines Tages sagte ich mir: - "Jetzt oder nie!" und fing an konkrete Pläne über ein Trip nach Tschernobyl zu schmieden. Die Idee an sich hatte ich schon seit längerem, ausserdem
war mir klar, dass ich früher oder später meine "Heimat", die Ukraine, besuchen müsste. Nach langen Vorbereitungen war es endlich soweit: Nun sitze ich voller ungewissen
Erwartungen in der Abflughalle, Koffer sind aufgegeben, in kürze startet der Flug... Mein Nachbar im Flugzeug zeigt sich ein wenig verwundert, als er von meinem Reiseziel erfährt.
Er ist Matrose und fliegt nun nach einem halben Jahr Arbeit nachhause. Nach Eineinhalb Stunden Flug setzt das Flugzeug zur Landung an - Herzlich Willkommen in der Heimat...
Mein Mitstreiter Alex und ich, suchen das Hotel in Kiew auf, wo wir uns mit zwei weiteren Reiseteilnehmern treffen sollten. Es ist ein Pärchen aus Hamburg, das auf einem
Erkundungstrip durch die Ukraine unterwegs ist. Kurzes Kennenlernen und wir verkriechen uns auf die Hotelzimmer - es ist schon spät und wir haben am nächsten Tag viel vor...
Morgen früh steht unser Fremdenführer pünktlich vor dem Hotel. Wir fahren los. Die Hektik der Hauptstadt nimmt mit der Fahrtrichtung sichtlich ab, die Gegend wird mehr ländlicher.
öfters zeugen leerstehende Häuser vom Rückzug der Menschen. Eine Weile später stehen wir am Einlass zur Sperrzone: Kontrollpunkt "Dityatki". Den Namen bekam er von einem
naheliegenden Dorf, hier leben noch Menschen. Kurzer Check durch die ukrainische Polizei. Ordnung muss sein - ab hier beginnt eine andere Welt, mit ihren sonderbaren Menschen,
Gesetzen und Gefahren...
Als erstes fahren wir nach Tschernobyl - in
“die Hauptstadt” der Zone. Paar Formalitäten,
Unterbringung im Hotel, kurze Anweisung
im Infozentrum durch unseren Guide.
Von hier geht es zum 18 km weit entfernten Lenin AKW Tschernobyl und dem berühmt berüchtigten "Sarkophag" - einer in Eile errichteten, mittlerweile maroden Betonschutzhülle,
die das Innere des havarierten Reaktors von Block 4 in sich beherbergt. Kurz davor halten wir am ehemaligen Dorf Kopatschi an. Alles was von ihm blieb sind die Ortsschilder.
Die Häuser wurden mit Räumungspanzern abgerissen und vergraben. Kleine Hügel geschmückt mit Strahlengefahrschildern - mehr bekommt man hier leider nicht zu sehen.
Zur anderen Seite, in der Ferne über dem Wald kann ein geschultes Auge die beiden Antennen des Tschernobyl-2 Überhorizontradars erkennen. Wir machen Halt gegenüber
der nicht fertiggestellten Blöcke 5&6 an, von hier aus sieht man das ganze Kraftwerksgelände: Die ersten beiden Blöcke, durch ihre typische Bauweise geprägt, den "Buckel" des
dritten Blocks und den gepanzerten vierten...
Wir fahren zum Besucherpavillon. Von dort sind es nur wenige hundert Meter bis zum Sarkophag. Ein riesiger grauer Klotz, der langsam aber sicher auseinanderbröckelt. Die überall
montierten gelben Stützgerüste greifen diesem einerseits monströsen, andererseits hilflos wirkenden Bauwerk unter die Arme. Die Roststellen überdecken seine gesamte Oberfläche.
Doch sein Atem ist noch deutlich zu spüren. Unsere aus dem Schlaf gerissenen Geigerzähler bestätigen dies eindeutig. Ein Aufenthalt an dieser Stelle vor 24 Jahren würde einem
nach wenigen Minuten das Leben kosten. Heute ist alles anders: Neben dem Tor zur lokalen Zone (direkte Umgebung) des Sarkophags steht ein Mensch und qualmt ganz genüsslich
eine Zigarette. Kraftwerkspersonal in grosser Anzahl strömt nach draussen, vermutlich um in der Mittagspause nach frischer Luft zu schnappen...Keinerlei Anzeichen von Hektik oder
allgegenwärtigen Gefahr...
Das Besucherzentrum ist besetzt, und wir beschliessen unseren Trip fortzusetzten. Der nächste Halt ist die Kreuzung von der es nur ein paar Kilometer bis nach Pripjat sind.
Auf dem Weg sieht man das Ventilationsrohr, das sich die Blöcke 3 & 4 damals geteilt hatten, zwischen den Bäumen des Roten Waldes schimmern. Tschernobyls "Markenzeichen" -
das Symbol der schlimmsten jemals vom Menschen verursachten Katastrophe... Nach wenigen Minuten erreichen wir die Kreuzung. Hier steht das bekannte "Pripjat 1970" Denkmal.
Damals, wie in fast jeder sowjetischen Stadt, wurden solche Monumente anstatt von Ortseingangsschildern errichtet, das von Pripjat wird heutzutage als Denkmal angesehen.
Ein Abzweig führt an der AKW Statue (eine Betonfackel mit dem AKW Schriftzug) nach Pripjat. Daneben verläuft eine Eisenbahnstrecke. Trotz des erneuerten Schotterbett und Gleisen
ist diese Gegend stark kontaminiert - ein Schritt von der Strasse reicht, um die eingestellte Alarmschwelle des Dosimeters zu überschreiten. Neben der Betonfackel schiessen die
Gammastrahlenwerte in die Höhe - hier verlief die erste Spur des Fallouts nur knapp an Pripjat vorbei und liess den benachbarten Nadelbaumwald binnen weniger Tage rot werden.
Etwa einen Kilometer weiter, bevor es durch den Kontrollpunkt nach Pripjat reingeht, passieren wir die so genannte "Todesbrücke". Ihren Namen hat sie dem Volksmund zu verdanken.
Es gab Gerüchte, dass Bewohner die sich auf der Brücke und auf der gegenüber liegenden Seite am Tag nach der Katastrophe aufhielten, sehr hohe, womöglich tödliche
Strahlendosen abbekommen hätten. Die Brücke ist seit dem mehrmals dekontaminiert worden, so dass der Aufenthalt heute ungefährlich ist. Die unten drunter verlaufende Eisenbahn
führt zur naheliegenden Bahnstation Janiw. Die stehen gelassenen Züge kann man von hier mit einem blossen Auge erkennen. Links, wie auf dem Silbertablett serviert, liegt das AKW,
rechts - unser Endziel - die Geisterstadt Pripjat.
Teil II