LostPlaces/Pripyat.de Tour Mai/Juni 2011
Tag III / II
Die Aussicht bedarf keiner weiteren Worte. Wir genießen es einfach eine Weile lang. Die sonst so angeregte Stimmung innerhalb unserer Truppe scheint für einen
Moment, der Faszination zum Opfer gefallen zu sein. Wenn überhaupt einer ein Ton von sich gibt, hört sich das hier oben wie ein leises kurzes Flüstern an.
Die Landschaft wird eindeutig von Kränen bestimmt. Wie die riesigen Wächter umzingeln sie den Block und lassen die ewige Baustelle ein wenig grotesk wirken.
Nach einigen Minuten ziellosen herumschlendern und einwirken der Atmosphere geht es mit Hilfe einer beängstigend rostigen Leiter eine Ebene höher. Das Dach ist
an vielen Stellen abgesackt und löchrig. Stellenweise kommt mir die sonst feste Bitumenbeschichtung wie ein Schwamm vor. Die Stellen werden vorsichtig umgangen.
Hier oben schwindet dieser von vielen empfundene “0815 Touristen” Beigeschmack vollständig und endgültig. Unser Fremdenführer betonnt es im gleichen Augenblick,
als ob er Gedanken lesen könnte. Abgesehen von der relativ hohen Strahlenbelastung innerhalb des Blocks, sollten hier auch normale Gefahren nicht unterschätzt werden.
Es geht einmal um den aus der Mitte herausragenden Buckel der Reaktorhalle zur anderen Seite. Von hier aus bekommt man das komplette Gelände um die erste und
zweite Ausbaustufe des AKW “Lenin” zu sehen. Wie ein Wald erstreckt sich das Umspannwerk mit seinen unzähligen Blitzableitern auf mehrere Kilometer. Dieses wird trotz
des abgeschalteten Atomkraftwerks weiterhin als wichtiger Punkt des ukrainischen Stromnetzes betrieben. Die Spitze des Krans links, ist wohl die höchste Stelle der dritten
Ausbaustufe.
Theoretisch geht es noch eine Ebene höher, doch die Leiter nach oben ist noch wackeliger als die davor. Nach kurzem überlegen mit dem Guide lassen wir es einfach.
Es wird wieder Zeit hinabzusteigen. Auf dem Rückweg werden noch Objekte wie die beiden legendären Antennen von Tschernobyl-2, das misslungene ISF-2 Zwischenlager,
das Gebäude des Novarka Konzerns (der den Bau der neuen Schutzhülle anführt), die beiden Kühltürme mit dem Lagerplatz für Baumaterial (im Detail abgelichtet). Vorsichtig,
einer nach dem anderen, geht es die wackelige Leiter wieder hinunter. Unten angekommen, geht es durch den Block zur überfluteten Fundamentgrube des 6. Blocks.
Videoaufnahmen vom Dach des Block # 5: Teil I, Teil II, Teil III
Unterwegs zum Maschinenhaus kommt man erst an der Halle für die Reaktorhilfesysteme und dem Reaktorgebäude vorbei. Danach geht es einige Meter am Maschinenhaus
entlang und um die Ecke ist auch schon das Eingangstor. Zu der Baugrube des 6.Blocks muss man das komplette Maschinenhaus durchqueren. Und wieder einmal müssen
sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Am Ende des etwa 200 m langen Maschinenhauses sieht man bereits durch das Tor strömendes Sonnenlicht...
Die Hitze draußen erreicht durch die Mittagssonne mal wieder einen Höhepunkt. Auf dem Betriebsgelände herrscht eine für dieses Objekt ungewöhnliche Stille. Es scheint
als ob die Arbeiter von “Komplex” hitzefrei hätten... Weder im Block noch draußen war niemand anzutreffen. Normalerweise wird hier “rückgebaut” was das Zeug hält - die
ganze Hütte ist voller Altmetall, auch wenn es nur Eisenschrott ist. Alle wertvollen Legierungen und Edel- oder Buntmetalle sind hier bereits vor Jahren in den wilden 90 gern
verschwunden. Die einzige Person die wir hier gesehen haben, war der gelangweilte Wächter in seinem Bauwagen am Eingangstor zum Gelände.
Die Fundamentgrube des 6.Blocks ist mittlerweile zu einem Biotop der besonderen Art geworden. Hunderte Möwen und andere Wasservögel finden hier ihren Lebensraum.
Wir werden Zeugen eines seltsamen Schauspiels: eine Möwe wird pausenlos von anderen Mitstreitern ihres gleichen attackiert. Das Ganze geschieht mehrere Minuten am
Stück, begleitet von einem ziemlich lauten Geschrei beiderseits. Ohne einen Grund für diese Angriffe zu erkennen, beobachten wir diese merkwürdige Verhaltensweise der
Vögel. Auch hier sind die Kräne überall wo das Auge hinschaut im Vordergrund. Einer hat bereits seinen aussichtslosen Kampf aufgegeben. Hier ein kurzes Video vor Ort.
Es geht wieder durch das Maschinenhaus zurück. Wir umgehen einmal den kompletten Block und kommen an das gegenüber liegende “Ufer” der Baugrube. Hier liegen
Unmengen an altem rostigen Schrott und Bauschutt. Die Spitze des berühmten Abluftkamins von Block 3 und 4 ragt über die Baumkronen hinaus. Die Besichtigung der dritten
Ausbaustufe ist hiermit abgeschlossen. Wir kehren zum Ausgangspunkt am Eingangstor zurück. Beim Wächter gibt es eine mehr als passende Runde kühles Trinkwasser...
Es ist bereits Nachmittag, ab jetzt verbleiben uns nur noch wenige Stunden in der Zone. Die Überlegungen was man mit der restlichen Zeit anstellen sollte führen bei allen
zum gleichen Ergebnis: zu den Dörfern für ein paar Stunden rauszufahren macht einfach keinen Sinn, die Straßen sind schlecht, die ohnehin sehr knappe Zeit würden wir
größtenteils für die Fahrt verbrauchen. Alle sind sich schnell einig - wir fahren nach Pripjat - ein Abschiedskuss sozusagen...
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